In den letzten Tagen (vor Weihnachten und auch danach) habe ich unzählige Telefonate geführt und viele Mails mit diversen Stellen ausgetauscht, Fazit: Die Werkstätten wurden nicht vergessen,es wird nur der Schwarze Peter („Wer zahlt die Zeche?„) seit 2 Wochen hin- und hergeschoben. Man kann zur Zeit recht schnell den Eindruck gewinnen, dass die durchaus durchdachte und sinnvolle (!) Entscheidung, eben keine Einrichtungen zu schließen oder – wie im Frühjahr – Betretungsverbote auszusprechen, ein nun viel größeres Problem erzeugt hat. Beschäftigte in Werkstätten, die verschiedenste Probleme mit der aktuellen Situation haben (Neurotisch, psychotisch, körperliche Anfälligkeit, usw.) können sich auf keine Verordnungen oder Gesetze verlassen, es fehlen Ausnahmeregeln, Einzelfallentscheidungen und Ermessensspielräume:
- Die Werkstätten können sich nur auf die übergeordneten Stellen berufen, wie die BAG WfbM, die Landschaftsverbände, das Land und den Bund – denn: jeder Beschäftigte, der zuhause sitzt, führt zu finanziellen Verlusten, die inzwischen kaum eine Werkstatt mehr vertragen kann. Heimarbeit oder andere Modelle führen zu erheblichen Mehrbelastungen, sowohl der Beschäftigten als auch des Personals, von den neuen Medien, einem Kontakthalten über Telefon oder gar einer Betreuung im häuslichen Umfeld will ich hier gar nicht erst sprechen.
- Die gesetzgebenden Parlamente der Länder und der Bund an der Spitze formulieren alles möglichst schwammig („Keine Tür zustossen“, „Recht auf berufliche Teilhabe sichern“ oder „nicht in blanken Aktionismus wie im Frühjahr verfallen“) – Schlüssige Konzepte oder gar ein vorsichtiges Abwägen der beiden Extreme (Alles zu vs. Alles auf) schien nie auf der Tagesordnung der Lockdown-Beratungen zu stehen.
- Die Landschaftsverbände sitzen zwischen den Stühlen und verweisen auf „Spielräume“, durchdachte („bewährte“) Hygienekonzepte oder dass man zum Beispiel Betriebsferien verlängern könnte, Urlaub abbaut oder gleich bei „Erkrankungen AU-Bescheinigungen einreicht“ (was immer das konkret heißen soll…).
- Diverse Verbände/Träger begrüßen die offene Vorgehensweise der Lockdown-Vereinbarungen, Kritik hört man nur vereinzelt.
Unter dem Strich verändert sich für die Beschäftigten von Werkstätten für behinderte Menschen jedoch gar nichts. Jegliche Verantwortung oder ein vernünftiges (gesundes) Lockdown-Verhalten wird vollkommen auf den Einzelnen abgewälzt.
So höre ich seit zwei Wochen hinter vorgehaltener Hand immer und immer wieder ein gerauntes „…gehen sie doch zum Arzt“ – die Absurdität dieses Ratschlags erkennen aber beinahe alle Ratgeber; zumal sie natürlich so oder so von einigen Werkstattbeschäftigten als letzte Möglichkeit in Betracht gezogen wird.
Eine Lösung für das Grundproblem ist sie aber nicht und leider werden – wie so oft – insbesondere die schwächsten Beschäftigten in dieser „Lösungsvariante“, dieser Vorgehensweise, ausgeschlossen und alleine gelassen.
Vor zwei Tagen stieß ich auf der Suche nach Unterstützung, Hilfe und Rat auf einen Artikel im Stadt Spiegel, einer Essener Regionalzeitung, in der der Fall eines engagierten Vaters geschildert wurde, dessen erwachsene Tochter von der WfbM sogar eine Kündigung erhielt, da die von mir oben beschriebenen „Spielräume“ wohl nicht ausreichten, die angespannte (angsterfüllte/gesundheitsgefährdende) Situation zu klären. Mit medialer Aufmerksamkeit und couragierten Schreiben/Telefonaten in Richtung Landschaftsverband konnte die Situation vorerst für die Tochter geklärt werden – nicht jedoch für unzählige andere Beschäftigte dieser Werkstatt (!), wie ich nach einem sehr intensiven Telefonat mit dem Vater erfahren hatte.
Kurzum: Die Werkstätten wurden nicht vergessen – die ganzen handelnden Akteure ziehen sich inzwischen nur mit einem schwammig-nebulösen Verhalten aus der Affäre, indem sie schlichtweg auf die nächstbeste Stelle verweisen, die dann ihrerseits versucht den Kreis zu schließen. Und natürlich weiterverweist.
Ich kann nur hoffen, dass insbesondere aus Richtung der Landschaftsversammlung die Verwaltung des LVR aufgefordert wird, bedeutend solidere „Spielräume“ zuschaffen als es bisher der Fall ist.
Unsere Tochter geht auf jeden Fall am 4. Januar in den Kindergarten, zu den anderen systemrelevanten Feuerwehr- und Krankenschwesterkindern, damit die Eltern pflichtbewusst ihren Dienst an der Montage- und Verpackungsfront leisten können – wo kämen wir denn hin, wenn wir noch krank feiern würden?!
Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen wir!
Nachtrag: Im Gespräch mit dem oben genannten Vater kam mir erstmalig der Gedanke einen Verein für Betroffene, Gleichgesinnte und auch Angehörige zu gründen. Man glaubt kaum, wie schlecht die Informationslage abseits der großen Träger und (Werkstatt-)Interessensverbände in Wahrheit ist. Das Schweigen der bekannten Interessensvertreter wie der LAGs der Werkstatträte oder gar der Werkstatträte Deutschland war noch nie so laut wie heute.